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Ulla beherrscht die Nacht
Mitte April gab der Winter nochmals ein beeindruckendes
Gastspiel und bestrafte mit einem eisigen Nordwestwind die Bäume
und Sträucher, die schon aus der Wachstumsruhe erwacht waren
und ihre zarten Knospen geöffnet hatten. Geschützt unter
den Zweigen einer mittelgroßen Fichte hockte ein Uhuweibchen
am Waldboden.
Sie hatte, wie immer an kalten Tagen, ihre Federn geplustert, unter
jeder ihrer breiten Schwingen kuschelte sich ein weißes Eulenküken.
Lore, das Küken unter dem rechten Flügel, war noch blind
und erst wenige Tage alt.
Ihre Schwester Ulla öffnete gerade die Augen, sie war drei
Tage eher geschlüpft und schon wesentlich größer.
Obwohl die Großeulen bevorzugt in Greifvögelhorsten oder
zerklüfteten Felswänden nisten, hatte diese Mutter ihre
weißen Eier Anfang März einfach unter eine Fichte gelegt
und seitdem den Platz nicht mehr verlassen. Sie kam ganz gut ohne
Wasser aus, das Futter brachte ihr der Vater ihrer Kinder. Er verschlief
die Tage ganz in der Nähe auf einem Baum. Doch sobald die Sonne
hinter dem Horizont verschwand, breitete er seine mächtigen
Schwingen aus und glitt lautlos davon. Im Suchflug oder von einem
hohen Baum aus stellte er allem nach, was sich bewegte und nicht
wesentlich größer war als er selbst. Er jagte bevorzugt
über freien Flächen, denn hier war er mit seinem fantastischen
Sehvermögen besonders im Vorteil. Seine Augen fingen selbst
den schwächsten Lichtschimmer noch ein und sein feines Gehör
verriet ihm die Richtung der Beute.
Hatte er ein Beutetier entdeckt, beobachtete er es eine Weile.
Der Uhu schien genau abzuwägen wie seine Chancen standen. Obwohl
ihn jede Bewegung am Boden in höchste Aufregung versetzte,
traf er vor allem bei größeren Tieren seine Entscheidungen
niemals übereilt. Erst wenn er das Verhalten des Tieres genau
studiert hatte und sicher war, die Beute überwältigen
zu können, stürzte er sich mit ausgestreckten Beinen auf
sein Opfer.
Wurde er nicht rechtzeitig bemerkt, umschlossen seine Zehen wie
eine Faust dessen Körper und je verzweifelter sich das Beutetier
wehrte, umso tiefer bohrten sich die messerscharfen Krallen in sein
Fleisch. Nur selten gelang dann noch einem Opfer die Flucht.
An diesem Abend musste der Uhu lange über die Wiesen und Felder
gleiten bis er endlich eine Wühlmaus fangen konnte. Obwohl
er selbst sehr hungrig war, trug er sie zum Horstplatz. Die Mutter
verschlang die Maus im Ganzen ohne ihren Kindern etwas abzugeben.
Der Vater sah ihr dabei zu. Er schüttelte leicht mit dem Kopf,
als wollte er sein Missfallen äußern, flog dann aber
fort.
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